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ADHS: Springende Aufmerksamkeit und späte Diagnose

  • Ina Raki
  • 10. Apr. 2024
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr. 2024


Wir leben am Waldrand, oft sehe ich Eichhörnchen. Wenn du mit dem Auto unterwegs bist, musst du höllisch aufpassen, dass sie dir nicht unterkommen. Erst neulich sah ich eins, das mich in meinem Auto von weitem ins Visier nahm. Hoch aufgerichtet wartete es am Straßenrand, bis ich ganz nah war, und querte dann panisch aufgelöst direkt vor meinem heranrollenden Auto die Straße. Ich war vorbereitet und deshalb passierte uns nichts. Kleines ADHS-Wesen, ich fühle dich. Ich bin wie du, und ich weiß es inzwischen. Dieses sinnlos überstürzte Lospreschen, genau dann, wenn der Moment, in dem du schlauerweise losgeprescht wärst, gerade rum ist. Das eifrige, gierige Sammeln von allem, was rumliegt, um dann in der Fülle nicht das wiederzufinden, was gerade gebraucht wird. Dieses Abgelenktsein durch jede Kleinigkeit. Und das Fokussiertsein auf etwas, das für alle anderen gerade nicht zählt, aber mich in manchen Momenten plötzlich überwältigend interessiert. All das war immer da. Und seit einem Jahr weiß ich endlich, warum.

 

54 Jahre, zehn Monate und einen Tag – so alt war ich, als meine Therapeutin mir schrieb, dass „die ADHS-Diagnose vom vorwiegend unaufmerksamen Typus bestätigt“ sei.


Noch jetzt, ein knappes Jahr danach, spüre ich die Erleichterung und Trauer, die das auslöste. Entlastend fühlt es sich an, endlich eine Erklärung zu haben. Wie schön wäre es gewesen, es eher zu wissen, wie viele Umwege, Missverständnisse, schlaflose Nächte … hätte das mir und anderen erspart? Immer habe ich mich gegen Schubladen gesträubt – und zugleich stets danach gesucht. Nie habe ich richtig in eine reingepasst. Immer gab es dieses Gefühl von Fremdheit: nicht dazuzugehören, nicht zu genügen. Anzuecken, ohne es zu wollen. Hilflos und ungeschickt und linkisch und irgendwie ein bisschen peinlich und daneben – einfach anders zu sein.


Leicht desorientiert, aber dagegen ankämpfend. Obsessiv sammelnd, chaotisch ablegend: Wissen, Neuigkeiten, Ideen, Stoffe, Bücher, Beziehungen, Wohnorte, Erinnerungen, Fotos, Hobbys … um anschließend Zugriff zu haben auf manches davon, aber oft nicht auf das, was ich gerade suche oder brauche.


Ein Anderssein, das mir jederzeit sehr eindringlich und gleichzeitig gar nicht bewusst war. Immer war ich irgendwie außer der Reihe, neben der Spur, ohne es zu wollen. Ich dachte, es liegt an der Linkshändigkeit. Oder daran, dass ich mit einer suchtkranken Mutter aufgewachsen bin – und dadurch nie Strukturen gelernt habe, sondern in die Parentifizierung hinein improvisiert habe. Oder daran, dass ich in einem Land sozialisiert bin, das es nicht mehr gibt, und mit Anfang 20 in ein fremdes System gestolpert bin, dem ich vorgegaukelt habe, ich wüsste, wie’s geht, das Leben in diesem unbekannten Universum. All das führte zu meinem Normalzustand, in dem ich aller Welt etwas vorspiele, was ich nicht bin. Begleitet von der unterschwelligen Angst, dass das alles irgendwann auffliegen muss, weil ich seit Jahrzehnten sehr müde davon bin.


So oft war ich im sinnlosen Widerstand. Sinnlos, weil er nichts brachte. Hat nur mich und alles in mir aufgewirbelt, aber im Außen nichts bewirkt. Denn sobald ich ins Tun kam, war ich im Nu wieder abgelenkt von etwas anderem. Habe danach gegriffen, voller Angst, dass es mir entwischt. Immer hab ich den Spatz aus der Hand gelassen, weil da gerade etwas anderes war. Nicht mal unbedingt eine Taube auf dem Dach. Sondern vielleicht einfach ein anderer Spatz, da drüben irgendwo, sehr weit weg. Oder war es nur ein altes Stück Dachpappe, das da wedelte im Wind …?


Und dann dieser so oft hochschießende Widerspruchsgeist! Ein überwältigender Impuls, dem ich keinen Einhalt gebieten konnte, egal, was er mitunter ausgelöst hat in meinem Leben. Dieser Drang, zu widersprechen, weil etwas in mir es keinen Sekundenbruchteil mehr aushält, nicht zu widersprechen. Obwohl alles, was an Vernunft auf dieser Welt existiert, sagt: Einfach mal die Klappe halten – jetzt! Vergeblich. Es ballert raus. Ohne Rücksicht auf Verluste.


Dabei hatte ich gleichzeitig so oft Angst vor allem Möglichen und Unmöglichen, ständig Sorge vor keine-Ahnung-was-allem. Denn in meinem Hirn spielen sich permanent Szenarien ab, in endlos-Schleife, sinnlos, unstoppbar, so ermüdend: was wäre, hätte, könnte passieren?! Du findest mich dennoch immer wieder auf den Barrikaden dieser Welt, zwar praktisch nie, wenn es darum geht, für mich selbst einzustehen, aber sicher, sobald jemand anderem Unrecht geschieht. Nur innerlich tobt dann groß die Angst, nach außen ist sie kaum zu sehen.


Überhaupt auch noch so ein Phänomen: Angstmut, um sich selbst gewickelt. Ich bin Risiken eingegangen, die so sinnlos waren wie mein Widerstand an verschiedenen Fronten. Eigentlich waren es keine Risiken, nichts Abwägbares, nichts Abgewägtes. Losgestürmt ins Nirgendwo! Man halte mich nicht auf, es gibt da eine Gelegenheit zu gar nichts, ich packe sie beim Schopfe! Ja, oft habe ich verloren, aber was soll’s: immerhin versucht, oder?


Apropos Verlieren: Diese Orientierungslosigkeit in so vielen Situationen. Ich bin diejenige, die ihre Arbeit jahrelang exzellent hinbekommt – aber am Anfang beim Vorstellungsgespräch den Eingang nicht findet. Wo ist diese scheiß Nummer 13, wenn man sie braucht?! Mein Kopf ist voll von Gedanken, die andere jetzt über mich denken könnten: „Sie ist zu blöd, eine Hausnummer zu finden, was kann sie schon können?“ Und sobald du so etwas zu mir sagst, hallt alles in mir Bestätigung: „Ja, sie ist so lächerlich, sie kann überhaupt nichts richtig!“ es fühlt sich oft gehört an, denn ich selbst bin die Person, von der ich das am häufigsten vernommen habe. 


Sicher ist: Ich bin nichts (wenn ich gerade down bin) und ich bin so viel (im Selbstüberschätzungs-Hoch)! So habe ich es geschafft, im Arbeiten immer wieder eine zu sein, die als besonders pragmatisch, effektiv, super belastbar, kreativ und motivierend galt. Mit der ADHS-Diagnose habe ich gelernt: Man nennt es Masking. Mit viel Energie allen vorspielen, dass ich genauso funktioniere wie die meisten Menschen um mich rum. Ich bin auch sehr teamfähig, also eigentlich, … vielleicht außer mit manchen Vorgesetzten. Denn es muss ja wohl an denen gelegen haben, dass nahezu alle meine Festanstellungen in einem Showdown mit Vorgesetzten und meiner nachfolgenden Kündigung endeten. Egal!



Ich bin auch noch die, die keine Verschlüsse ordentlich zuschraubt. Ihre Finger hören auf, keine Ahnung warum. Weil es zu langweilig ist, weil in Vergessenheit gerät, dass da noch weiterzuschrauben wäre? Und ich bin die, die tagelang die sinnlosesten Sachen tut, das Nötige aufschiebt, wegdrückt, auszublenden sucht … mit einem überwältigenden, schambeladenen schlechten Gewissen. Die ganze Zeit angstgelähmt auf das fixiert, was zu tun ist – aber unfähig, es in Angriff zu nehmen, wie eingefroren. Um dann die Nacht panisch durchzuarbeiten, damit das Projekt noch geschafft wird, das nicht mehr zu schaffen ist. Ich bin die, die so wunderbare Pläne machen kann, Ablaufpläne, mit sinnvoller Struktur: für sich selbst, für andere. Für andere funktionieren sie sogar!


Und dann diese Änderungswut, die oft aus dem Nichts auftaucht und mich hinterrücks überwältigt. Dieser permanente Drang, etwas über den Haufen zu werfen, das doch gerade beginnt, gut zu funktionieren, sich einschleift, zum gewohnten Alltag wird. Das wütende Bedürfnis, immer wieder etwas Neues anzufangen, bevor das Alte beendet ist.


Und dann haben wir da noch: die liebe Zeit. Die Zeit und ich, wie wir gar nichts miteinander anzufangen wissen. Gerade noch war früher Morgen, jetzt ist der Tag rum. Im nächsten Moment dehnen sich fünf Minuten, als wäre es die Ewigkeit. Wie lange brauche ich, um diese Aufgabe zu erledigen? Keine Ahnung, nach Jahrzehnten, in denen ich ähnliche Aufgaben erledigt habe, weiß ich es nicht. Erkläre dir (überzeugt und überzeugend!), dass ich Ende der Woche das Manuskript liefern kann. Ja, genau das Manuskript, das du realistisch in einem halben Jahr in den Händen halten könntest. Hättest du jemanden gefragt, der halbwegs das Konzept Zeit begreift, hättest du diese Antwort auch bekommen...


Und da ist auch noch mein ungebetenes Talent, dass sinnloses Wissen in mir auftaucht und gespeichert bleibt, während deutlich relevantere Infos, wie: „Wo habe ich vor einer Minute den Schlüssel abgelegt und mein Handy – und warum stehe ich hier im Flur, was wollte ich gerade holen oder erledigen?!“ ins ewige, schwarze Nichts getaumelt sind. Aber mein Kopf ist nicht leer, nein, gar nicht! Hier speichern sich so relevante Sachen wie: Am 7. Hochzeitstag in meiner zweiten Ehe war unser aktueller Nachbar auf den Tag genau doppelt so alt, wie meine Tochter an diesem Tag war. Keine Pointe, die beiden haben nichts miteinander zu tun. Ich sitze auf der Toilette und diese Info taucht in meinem Kopf auf. Sie bleibt dort, noch Jahre später kann ich sie abrufen. Es interessiert niemanden auf der ganzen weiten Welt, keinem Menschen bringt diese Info irgendetwas. Also, von dieser Ebene an unnützem Wissen sprechen wir.


Genauso unnütz, wie diese alles überwältigende Begeisterung oft ist, die aus dem Nichts hochschießt. Um nach Sekunden, Stunden oder auch Monaten ohne Vorwarnung wieder dahin zu verschwinden. Spurlos. Sie hinterlässt keinen Abdruck, keine Erinnerung. Ausgelöscht, als wäre sie nie dagewesen.


Das alles ist mir immer noch ein Rätsel. Weil mein Hirn anders tickt als viele andere Hirne, macht es diese Kapriolen. Eigentlich funktioniert es nicht schlechter als neurotypische Hirne, nur anders eben. Aber die Welt ist gemacht für die neurotypischen – und deshalb eckt es an, das neurodivergente Denken.


Hilft es mir, das zu wissen? Absonderlicherweise: Ja.

 

 

(PS.: Mit Dank an Seli, ohne deren Anstoß ich nicht erfahren hätte, dass ich ein ADHS-Hörnchen bin.)





Ein Text von Ina Raki

Mit Illustrationen von Sofia Khadija Raki


Inas berufliches Leben dreht sich ums Schreiben und Schreibenlassen – sie arbeitet als Autorin, Schreibberaterin, Lektorin und Texterin. Ansonsten beschäftigt sie sich am liebsten mit dem Wichtigen (wie soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte für alle, Feminismus in ganzer Vielfalt) und dem Schönen (Bücher lesen, schreiben, sammeln – Kleider anschauen, nähen, tragen – Katzen und Dackel bewundern).







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