Leere Stunden
- Rita Ketler, Lisa Maria
- 6. Nov. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Apr. 2024
Es kam eines Tages von der Arbeit nach Hause in seine Höhle und entschied, dass es ab nun den Erfordernissen des Alltags nicht mehr gerecht werden könne. Es war eine rationale Entscheidung, nun damit aufzuhören, den Mühen nachzustreben, getroffen auf Basis der realistischen Reflektion der eigenen Kapazitäten. Es hatte sich lange angebahnt, doch nun war es sicher:

Es hatte schon davon gehört, dass Anderen die Reserven plötzlich und ohne Vorwarnung abhanden gingen, sie plötzlich zusammenbrachen und selbst nicht wussten, was vor sich ging – bei ihm war es doch anders, es betrachtete sich stets von außen, war außer seiner selbst und bemerkte schlicht und nüchtern, dass sich nun etwas ändern würde. Es schloss die Fensterläden, legte sich ins Bett und blickte geradewegs an die Decke. Es fühlte nichts dabei, es schaute einfach nur, hatte keine Ziele und keine Wünsche, es gab nur es und die Decke.
Die Stunden vergingen. Vielleicht vergingen auch Tage, das war nun schwer zu sagen, denn die Höhle war dunkel und leer und nichts rührte sich außer dem flachen, langsamen Atem des eigenen Körpers und fernen Geräuschen aus der fernen Welt, die es nun nichts mehr anging. Irgendwann klopfte es einmal an der Tür und ein andermal klingelte ein Telefon, doch es lag weiterhin. Es war nicht daran zu hindern, zu liegen und die Decke anzusehen, wie es sein einziger Wunsch war. Bis die Reserven wieder voll sein würden. Die realistische Reflektion der eigenen Kapazitäten bekam erste Sprünge.
Es kam ein Moment, da bekam es Hunger. Hunger war ein Gefühl, das sich deutlich von dem unterschied, was zuvor da war (nämlich: nichts), also dachte es darüber nach, etwas zu tun, um mit diesem Bedürfnis umzugehen. Es dachte stark nach. Die Anspannung wuchs und es bemerkte, dass es auch durstig war, sein Hals schmerzte schon. Es rang mit sich und seinem Hals, mit seinem Schmerz und liebäugelte damit, sich selbst zu verschlingen und tat dies innerlich auch.

Aus der apathischen Starre schreckte es plötzlich auf – was war geschehen? Ein unangenehmer Anstieg der Herzfrequenz brachte es dazu, sich zu spüren und festzustellen, dass es nicht feststellen konnte, wie viel Zeit wieder einmal vergangen war. Etwas Kleines, Feuchtes rann langsam sein Gesicht herab. Es schaute schielend auf die eigene Nase. Es schaute an die Decke. Ein weiterer Wassertropfen fiel herab. Von der Decke tropfte es. Sein verkrampfter Kiefer schob sich langsam auseinander, vielleicht knarzte er sogar. Es legte leicht den Kopf in den Nacken. Ein Tropfen fiel auf seine Zunge. Nun hörte es auch das Prasseln des Regens auf dem Dach. Nach einigen unbewegten Minuten des inneren Zwiespalts entschied es sich, gemächlich aufzustehen und ans Fenster zu schlurfen.
Es schob die Läden auseinander und der Himmel war grau. Doch der Regen war herrlich. Es schob seinen Kopf ungelenk-behände hinaus und bot sich dem Wasser dar, das die Rauheit seines Halses linderte. Die Tropfen waren schön kühl auf der Haut und regten seine Nervenenden an. Sie stillten seinen Durst. Seinem Haupte hinterher bewegte es nun ein langes, dünnes Bein aus dem Fenster, verhinderte nur knapp ein Verknoten mit sich selbst, bis es, das zweite Bein hinterher, draußen auf den nassen Grund plumpste. Es befand sich auf einer weiten, dunstigen Fläche unberührter, flacher Landschaft.

So saß es nun und blickte statt an die Decke in die Landschaft. Und schaltete sich allmählich wieder aus, um die Reserven zu schonen. Doch sein Kopf war nicht mehr leer, sondern unzusammenhängende Fetzen blasser Erinnerung zogen durch seinen Geist. Mal langsam, mal sprunghaft, und es ließ es geschehen. Vor seinem inneren wie äußeren Auge vermischte sich der neblige Dunst der regenfeuchten Umgebung mit dem dunstigen Nebel seines Andenkens.
Zwei Schnecken krochen durch den matschigen Morast. Sie kamen direkt auf es zu. Sein Blick klärte sich und es beobachtete. Vier kleine Schneckenaugen sahen es erwartungsvoll an und es sah etwas ratlos ob der Frage zurück, was sie wohl von ihm erwarten könnten. Eine der beiden setzte seinen Kriechweg fort und schleimte sich allmählich über seinen Fuß sein Schienbein hinauf. Erst im Anblick der Schleimspur und im Fühlen der neuen Feuchte bemerkte es, dass es nicht mehr regnete. Warum war es noch hier draußen? Diese Frage stellte es sich unbewegt, da die Strecke der Schnecke abzuwarten war. Sie kroch hinauf. Seine Gelenke knackten, als es der Schnecke seine Hand reichte, um sie respektvoll zu begrüßen. Kein Zögern war zu merken, als sie auf seine Hand hinüberglitt. Es hob sie zu sich hoch, damit sie auf Augenhöhe sprechen konnten. Sie verstanden sich erstaunlich gut.

Es saß. Erneut. Und schaute in die Ferne. Seine innere Ruhe schien zunehmend gestört, da es vermehrt aufdringliche Geräusche vernahm. Vogelschreie zum Beispiel. Und Wind in den Zweigen. Einige Vögel begannen nah um es herumzuflattern und es fordernd anzuzwitschern. Es wurde zunächst doch etwas ärgerlich, da es hier doch saß, um sich auszuruhen und seine Batterien aufzuladen. Das Ärgernis brachte Bewegung in seinen steif gewordenen Körper: es versuchte, die Vögel durch Wedeln seiner Arme zu verscheuchen. Doch diese ließen sich nicht beirren und kamen bloß noch näher heran, setzten sich auf seine Schultern, seinen Kopf. Irritiert stellte es seine Gegenwehr ein. Die Vögel schienen sich hier wohlzufühlen.

Als sich alle Beteiligten schon gut aneinander gewöhnt hatten, begann einer der Vögel auf der Wiese herumzupicken und Gänseblümchen zu fressen. Besonders nahrhaft sah dies nicht aus. Seit wann fressen Vögel eigentlich Blumen? Doch der Enthusiasmus des Tieres machte es neugierig. Erschwerend hinzu kam der immer noch bestehende Hunger, den es bis zu diesem Moment erfolgreich verdrängt hatte. Dieser Erfolg war vorbei. Es tat es seinem neugewonnenen Bekannten gleich und griff nach einer der Pflanzen. Nach eingehender Prüfung des naturalen Sachbestandes durch schielende Okularinspektion knapp vor seiner Nase schob es die Blüte vorsichtig in seinen Mund. Die Vögel jubelten. Seine Geschmacksnerven freuten sich.

Es saß noch immer auf der Wiese. Sie war noch feucht. Langsam fühlte es sich besser. Die Vögel verabschiedeten sich und glitten in die Ferne davon. Die friedvolle Stille der Landschaft gefiel ihm inzwischen ganz gut. Doch es machte sich los davon, um sich in der Höhle etwas aufzuwärmen. Es stieg durch das noch immer offenstehende Fenster zurück hinein, doch ließ die Läden offen. So fiel etwas Licht hinein.
Es schaute sich in seiner Höhle um, als sei es nicht seine eigene. Sie wirkte surreal, als wäre es selbst nur zu Besuch oder hätte die Höhle noch nie zuvor gesehen. Alles wirkte unberührt und doch, als wäre gerade erst jemand hinausgegangen. Es ging zu seinem Telefon. Mails checken? Nein. Dazu war es noch zu früh. Doch das Telefon war ok. Es hatte mehr Anrufe verpasst, als es bemerkt oder gedacht hätte. Es entschied sich zögerlich, ein gutes Freund einzuladen. Zu seinem zurückhaltenden Erstaunen hob es sofort ab und kam kurz darauf vorbei. Sie sprachen kaum, doch es war einfach mit ihm da. Die Höhle war so weniger leer und es war weniger allein. „Und, kommst du mit raus?“, fragte das Freund. Es schaute es an. Einige Momente vergingen. „Na gut.“

Illustration: Rita Ketler
Text: Lisa Maria