Im rosa Haus
- Luisa Gärtner
- 16. Dez. 2024
- 2 Min. Lesezeit

Im rosa Haus schliefen überall Menschen, als es anfing zu schneien.
Außer eine.
Sie stand auf und sah den Schnee. Sie wanderte durch den vollgestopften Durchgang. Sie
stieß sich den Zeh an einer Tür, an der sie sich schon 20 mal den Zeh gestoßen hatte.
Sie stieß sich am Rollstuhl, den sie nicht kannte und deshalb nicht mit ihm gerechnet hatte.
Sie machte nie das Licht an.
Sie wanderte in einen helleren Raum, wo man kein Licht brauchte, den mit der Terassentür.
Sie sah ihre schlafende Schwester auf einem Sofa. Sie machte Kaffee. Sie setzte sich auf den
Küchentisch und starrte aus der Fensterfront. Alles weiß.
Der Schmetterlingsgarten von einer Schneeschicht überdeckt. Die Bank, die Äste.
Schon früher war sie um diese Zeit aufgestanden, nur um in Ruhe aus dem Fenster zu starren.

Nach etwa einer Stunde ging sie die Treppe rauf.
Sie machte leise die Tür zu den anderen Schlafenden auf. Es schneit, sagte sie, und eine ältere
Frau, ihre Mutter, lächelte. Tief. Der Mann neben ihr lächelte auch, er konnte keinen Schnee
sehen, weil er gar nichts mehr sehen konnte, aber später sagte er, die Stimme hätte ihn daran
erinnert, wie sie als Kind ins Schlafzimmer gekommen war und aufgeregt vom Schnee
erzählt hatte. Deshalb streckte er die Hand aus dem Bett. Sie nahm sie.
Wenn im rosa Haus alle schliefen und keiner klingelte und es schneite, vergaßen sie, in
welcher Lage sie sich befanden. Der Mann vergaß seinen Tumor, der sich langsam oder
schnell, das wusste er wegen des Morphiums nicht genau, vom Rücken aus die Wirbelsäule
herunter ausbreitete. Die Frau neben ihm vergaß, dass sie das rosa Haus zwar liebte, aber es
manchmal gern verlassen würde. Die Botschafterin vergaß, dass ihr Vater keinen Schnee
mehr sehen konnte, und die schlafende Schwester vergaß, dass sie irgendwann woanders hatte schlafen können.
Sie vergaßen, dass sie auf den Tod warteten und dass sie überhaupt 30 Jahre gealtert waren,
seit sie das rosa Haus rosa gestrichen hatten. Sie vergaßen, dass ihre Mutter gestern den
Begriff mental load gelernt hatte, und dass er sie sehr beschäftigt hatte, und dass die Linke,
wenn sie in ihrem Haustürwahlkampf an ihrer Tür klingeln würde, um zu fragen, was man an
unbezahlter Carearbeit verbessern müsste, sowieso nichts mehr daran ändern konnte, dass das Schicksal im rosa Haus besiegelt war:
Sie würden es nicht verlassen, bis er tot war.
Das lag nicht nur an der Versorgung auf dem Land, sondern auch am Schnee, den der
Nachbar schon vom Bürgersteig gekehrt hatte, einfach nur weil er sich erinnerte, wie vor vier
Wochen der Krankenwagen gekommen war.
Und wie der Krankenwagen wieder zurückgekommen war und sie wieder in das Haus
gegangen waren, der Vater das letzte Mal die Treppe nach oben.
Sie freuten sich über den Schnee, weil sie sich über etwas freuen wollten.
