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Männer an die Leine

  • Juli Faber
  • 27. Sept. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr. 2024



Der Regionalzug gleitet ruhig durch die hügelige, grüne und von Blumentupfern besprenkelte Landschaft. Ich sitze im Fahrradabteil des Regionalzugs nach Salzburg, meine Stirn an das Plexiglas des Zugfensters gelehnt, und schaue den graublauen Alpen entgegen, die Kilometer um Kilometer näher rücken. Für einen in München lebenden Menschen sind sie das beste Ziel für eine Flucht. Und ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor der monströsen Patriot:innen-Party, die München jedes Jahr heimsucht: das Oktoberfest.


Die Fensterscheibe ist angenehm kühl, der Regio ist fast leer und ruhig. Mein Schäferhundmischling Mekani schläft entspannt zu meinen Füßen. Langsam lockert sich die Falte zwischen meinen Augenbrauen und der angespannte Zug um meinen Mund. Beides schleicht sich ab Mitte September jedes Jahr in meines und viele andere Gesichter der Anwohner:innen rund um die Theresienwiese. Es sind die Gesichter jener Menschen, die von zugeparkten Straßen und massenhaften, in Hinterhöfe kotzenden Menschenansammlungen in Dirndl oder Lederhose genauso genervt sind wie ich. Doch noch bevor mich der sanft wiegende Zug vollkommen in einen Entspannungszustand lullen kann, reißt mich die leidliche Ticketkontrolleurin zurück auf den Boden der unangenehmen Tatsachen. Nicht etwa weil etwas mit meinem Ticket nicht stimmt. Sondern einzig mit der Frage: „Haben Sie einen Maulkorb für den da?“ Natürlich auf Bayerisch. Und natürlich meint sie mit „den da“ den schon etwas grauen, auf dem Boden herumfläzenden Mekani.


„Ja“, presse ich gequält zwischen den Zähnen hervor. Natürlich habe ich.


„Im Zug ist Maulkorbpflicht“, beharrt die Ticketkontrolleurin, als hätte ich ihr widersprochen. Ich nicke nur und mache vage Anstalten, Mekanis Maulkorb aus meinem Rucksack zu kramen. Mekani hebt interessiert den Kopf und hinterlässt dabei eine kleine Sabberpfütze auf dem schmutzigen Zugboden. Die Kontrolleurin gibt sich zufrieden und läuft weiter, durch den fast leeren Zug, in dem gleich einem der freundlichsten und zärtlichsten Wesen, die ich kenne, unnötigerweise ein Stückchen mehr Freiheit geraubt wird.


Leine oder keine?

Zum Glück sehen die meisten Kontrolleur:innen über Maulkörbe hinweg. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Mekanis samtweiche Schnauze in eine unbequeme Hülle aus Plastik eingesperrt werden muss. Meistens im Zug, ob Regional oder ICE. Die weit häufigere Unterhaltung führe ich allerdings über Leinen. Floskeln wie „Können Sie Ihren Hund anleinen?“ oder ein rüdes „Hier ist Leinenpflicht!“ begegnen mir regelmäßig auf Spaziergängen mit Mekani. In Parks, im Wald und auf der Straße. In den allermeisten Fällen kommen sie von Menschen, die weder mich noch meinen Hund kennen. Und fast immer kommen sie in Situationen, in denen ich sie für total unnötig halte.


Es gibt gute Gründe, einen Hund anzuleinen. Einem Jagdhund, der jedem Vogel und Eichhörnchen hinterherrennt und bereit wäre beides zu reißen, steht eine Leine ziemlich gut. Zur Brut- und Setzzeit in Wäldern und Parks ist Anleinen fair. Genauso ergibt es Sinn, einen Hund an die Leine zu nehmen, wenn er unkontrolliert auf befahrene Straßen rennt, oder auch, wenn er ein total überdrehtes Nervenbündel ist und jede Person, die ihm entgegenkommt, stürmisch anspringt und quer über das Gesicht leckt (erst recht, wenn diese Person z.B. auf einem Fahrrad sitzt). Eine Hundeleine kann ein total sinnvolles Item sein, um Hunde mit unkontrollierbarem Temperament in bestimmten Situationen vor sich selbst sowie menschliche und nicht-menschliche Tiere in seinem Umfeld zu schützen.


Total sinnlose Gründe hingegen, einen Hund an die Leine zu nehmen, sind: „Hier ist Leinenpflicht“ und „Manche Menschen haben Angst vor Hunden.“ Gerade diese beiden Argumente höre ich aber am häufigsten als Begründung. Wieso? Es scheint noch eine allgemeine Vorstellung davon zu geben, dass Hunde gefährlicher seien als das, was sonst so ohne Leine herumläuft: Menschen. Denn faktisch macht eine Hundeleine den öffentlichen Raum in keiner Weise sicherer.


Mit Zwang gegen die Angst

Nicht umsonst bewegen sich die Bundesländer ohne generelle Leinenpflicht – Bayern und Baden-Württemberg – ganz am unteren Rand der Statistik von tödlichen Bisswunden durch Hunde.[i] Beide Bundesländer gelten als eher hundefreundlich. Und wer ein bisschen mehr Wissen über den Umgang mit Hunden hat, findet das auch total logisch. Hunde, die häufiger als nötig an der Leine geführt werden, sind nämlich nicht unbedingt entspannter. Eher im Gegenteil. Es gibt sogar ein Wort dafür: Leinenaggression. Den eigenen Hund permanent an die Leine zu ketten, verführt unverantwortliche Begleitmenschen nämlich dazu, ihren Hund schlecht zu betreuen. An der Leine kann er ja eh nichts machen, denkt mensch sich. Die Folge ist, dass der Hund nicht lernt selbstbewusst, aber entspannt mit seiner Umwelt umzugehen.


Hunde sind sehr höfliche Tiere. Gleichzeitig kommunizieren sie fast ausschließlich über Körpersprache. Ein Beispiel: Ein Hund, der einem anderen nicht zu nahe kommen will, weicht aus. Ein souveränes Gegenüber checkt das und lässt den Hund in Ruhe. Es gibt aber auch Hunde, die entgegengesetzt reagieren und den Wunsch nach Distanz des anderen nicht respektieren. Zum Beispiel weil die eigenen Hormone verrückt spielen, der Hund jung ist und die Hundesprache noch nicht spricht, oder weil er ausschließlich von Menschen sozialisiert wurde und darum schlecht darin ist, andere Hunde zu lesen. Wenn jetzt der Hund, der Abstand sucht, nicht ausweichen kann, weil er in der Leine gefangen ist, bleibt ihm nur eins: laut und deutlich seine Grenzen setzen, mit Bellen, Knurren, Schnappen – oder wenn er wieder und wieder diese schlechte Erfahrung macht, sogar mit Beißen.


3,3 versus 120 Tote

Unabhängig von den Gründen, warum Hunde angespannt oder aggressiv reagieren, lohnt es sich einen Blick auf die Zahlen zu werfen, welche Gefahr von Hunden wirklich ausgeht. Laut dem Ärzteblatt ereignen sich in Deutschland schätzungsweise 28.000 Hundebisse pro Jahr.[ii] Gehen wir davon aus, dass jedes Mal eine andere Person gebissen wird, würde das bedeuten, dass schätzungsweise ca. 0,033% aller Deutschen einmal im Jahr von einem Hund gebissen werden. Dazu zählen auch leichte Bisse, die maximal mit einem Pflaster versorgt werden müssen. Tödlich enden Hundebisse deutschlandweit im Schnitt in 3,3 Fällen.[iii]


Was können uns diese Zahlen sagen? Während ich in meinem Regio Richtung Berge sitze, auf der Flucht vor dem Münchner Oktoberfest, einer Orgie von Fleischkonsum und Alkohol, kommen mir andere Zahlen in den Sinn: Zwei von drei Frauen erfahren in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Jede siebte Frau wird Opfer schwerer sexualisierter Gewalt.[iv] Allein in den sechszehn Tagen Oktoberfest 2022 wurden drei Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht.[v] Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Jeden dritten Tag geschieht in Deutschland ein Femizid (weltweit sogar alle elf Minuten).[vi] Das sind im Schnitt 120 ermordete Frauen im Jahr. Frauen mit Behinderung sind noch stärker von Gewalt betroffen, ganz zu schweigen von der Gewalt gegen Trans*. Diese Gewalt ist es, vor der ich fliehe. Und vor der keine Frau auf der Welt sicher ist – weder in diesem Zug noch auf einer Berghütte. Deren Gefahr sie höchstens minimieren kann, aber niemals komplett abschalten. Vor der sie keine Leine schützt, kein Maulkorb und letztendlich nicht einmal die Justiz. Es ist die Gewalt des Patriarchats.


Maulkorb für Rubiales

Dieses Patriarchat kam übrigens auch auf die grandiose Idee, Hunde zu Werkzeugen zu machen. Das Patriarchat hat Wölfen und Hunden ihre eigene Wertigkeit von Rangordnung und Alpha-Wesen aufgezwungen und dementsprechend die Hundeerziehung zu einem Hierarchiekampf gemacht. Das Patriarchat hat Hunde zu Beißmaschinen für Hundekämpfe gezüchtet und sie dafür in körperliche Wracks verwandelt. Das Patriarchat hat es geschafft, dass wir Tiere nicht als gleichrangige Lebewesen, die wie wir fühlen, wahrnehmen und verarbeiten, zu sehen, sondern als uns untergeordnete Objekte, die wir nach unseren Gunsten einsperren, töten, formen und durch unseren Alltag zerren können, als hätten sie keinen eigenen Willen, keine Bedürfnisse und keinen individuellen Charakter.


Das Patriarchat schafft eine Atmosphäre, in der sich ein Luis Rubiales (Spaniens Fußballverbandpräsident) traut, die Fußball-Weltmeisterin Jenni Hermoso nach dem gewonnenen WM-Finale ungefragt und in aller Öffentlichkeit mitten auf den Mund zu küssen. Unverkennbar hat er sich mit diesem Akt der sexuellen Gewalt so sicher gefühlt, dass er dafür keine Konsequenzen erwartet hatte. Die Statistiken zeigen, dass für die Hälfte aller in Deutschland lebenden Menschen die Gefahr, von einem Mann getötet zu werden, schätzungsweise 36-mal höher ist als von einem Hund. Und trotzdem zwängen wir Hunden Maulkörbe und Leinen auf, die sie im blödesten Fall überhaupt erst unausgeglichen und reizbar machen. Aber einem Rubiales wurden offensichtlich nie Grenzen gesetzt.


Raus aus der Spirale

Mir ist klar, dass Ängste nicht immer rational sind, und dass es Menschen nicht zwangsläufig hilft, wenn ich ihnen Zahlen vor die Nase werfe, die vermitteln, wie unnötig ihre Ängste doch seien. Vor allem wenn diese Menschen bereits schlechte Erfahrungen mit Hunden und ihren Begleitmenschen gemacht haben. Ich möchte diese Angst weder verurteilen noch kleinreden. Ich wünsche mir lediglich, dass Menschen ihre einzigartige menschliche Fähigkeit nutzen, reflektiert und weitsichtig mit ihren Ängsten umzugehen und sie nicht willkürlich auf Lebewesen zu projizieren, die nichts für ihre Erfahrungen können. Mekani ist das beste Beispiel dafür. Er ist ein überaus höflicher und sanfter Hund, der sehr souverän mit gestressten menschlichen und nicht-menschlichen Tieren umgeht. Ihn grundlos an die Leine zu fesseln oder in einen Maulkorb zu zwängen, weil irgendein Mensch, den er nicht kennt, irgendwann mit irgendeinem Hund irgendeine schlechte Erfahrung gemacht hat, ist eine sinnlose negative Erfahrung für ihn, die er nicht versteht und aus der er niemals etwas lernen wird. Selbst wenn ich als Mensch Hunde – aus verschiedenen Gründen – nicht mag, gibt mir das nicht das Recht, ihnen ihr Bewusstsein und ihr Nervensystem abzusprechen. Es ist ein biologischer Fakt, dass Säugetiere – also auch Hunde – über beides verfügen und daher in unangenehmen Situationen, genau wie wir, Schmerzen, Angst und Hilflosigkeit erfahren können.


Solange wir nicht-menschliche Tiere unhinterfragt als Projektionsfläche für unsere Vorurteile, Ängste und Ablehnungen benutzen, werden wir auch nie aus der zwischenmenschlichen Spirale von Gewalt, Ausgrenzung und Ausbeutung herauskommen, die uns in das herrschende System von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Klassismus gebracht hat. Menschen, die Hunden mit Angst und Missbilligung begegnen, lade ich darum dazu ein, die eigene Perspektive für viel realere Gefahren zu öffnen und dort hinzuschauen, wo nicht nur Angst und Missbilligung, sondern sogar Wut und Aktivismus gefragt sind. Hunde an der Leine machen unsere Straßen und Parks nicht sicherer. Feministische und speziesübergreifende Solidarität hingegen schon.


Bild und Text von Juli Faber



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