Keine Hoden, nirgends
- Luisa Gärtner
- 8. März 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Apr. 2024
Brüste und Eier von Mieko Kawakami als feministische Weltliteratur

Liebe entrüstete Mitreisende in der DB, ich lese nicht über Sex. Ich lese über den modernen Pauperismus, das Ende der Fahnenstange der Emanzipation, und die Bedeutung der Literatur für das menschliche Dasein.
Die Eier stammen vom Huhn und die Brust-OP kann sich niemand leisten. Dafür ernte ich schockierte Blicke im Zug, sobald ich Kawakamis atemberaubendes Werk aus der Tasche ziehe. Gut gemacht, Kawakami. Du bestätigst schon mit den Reaktionen auf Deinen Titel, was die Kinder in Janne Tellers Nichts begreifen: Dass es wichtiger ist, wie etwas aussieht, als: wie etwas wirklich ist.
Brüste und Eier hat viele Preise gewonnen, sie aufzuzählen ist sinnlos. Gleich verhält es sich mit den lobenden Rezensionen. Es liegt in der Natur von platzsparenden Zweiwortbewertungen, dass sie allgemein gehalten sind und man wenig über den Grund, warum ein schriftstellerisches Werk außerordentlich ist, über seine Bedeutung für Literatur und Gesellschaft erfährt. Bei Brüste und Eier müsste man eher von Bedeutungen sprechen, weil der Text einen neuen Blick auf so viele unterschiedliche Phänomene und Probleme der Moderne wirft, dass man eigentlich mehrere Rezensionen oder eine Dissertation darüber schreiben müsste, die dann wieder keiner liest.

Über das Lesen und Gelesenwerden, das täglich Brot der Autorenschaft, schreibt die aufstrebende Autorin Kawakami immer, so auch in ihrem zweiten Bestseller All die Liebenden der Nacht. In einem Drehbuchratgeber habe ich mal gelesen, es sei eine sehr schlechte Idee, über verkrachte Künstlerexistenzen zu schreiben, im Kapitel „Dinge, die wir nicht mehr sehen wollen“. Für Brüste und Eier gilt diese These aber nicht. Die Protagonistin Natsuko ist Autorin und sie ist erfolglos, insofern ihr Blog auf Wattpad einen Besucher am Tag hat. Aha, untalentiert, würde man meinen. Aber es geht hier nicht um eine Autorin, der es an Talent, Durchhaltevermögen oder Liebe zum Objekt mangelt. Im Gegenteil: Ihre anfängliche Erfolglosigkeit wird durch den Zufall bestimmt.
Dieser Zufall ist die Armut, und deshalb ist Brüste und Eier neben vielen anderen Zuschreibungen, die man treffen könnte, eine Art Märchen über die moderne Armut. Die anderen beiden Protagonistinnen, Makiko und Midoriko, sind ebenfalls sehr klug und sehr arm. Makiko, Natsukos Schwester, wurde jung schwanger, sie zog Midoriko in einer Einraumwohnung groß. Durch Zufall sind sie arm geboren, und in der Moderne wird Armut noch immer vererbt.
Die Folgen dieser Armut sind vielfältig und nicht vom Subjekt zu trennen. Für Natsuko ist ihr Erlebtes der Grund, warum sie schreibt. Auch Midoriko schreibt. Ihr Tagebuch bietet im ersten Teil erschreckende Einblicke darüber, wie ein Teenager das Geschlechterungleichgewicht und die Bürden ihres jungen Lebens ehrlicher und reflektierter niederschreibt, als es eine Gleichstellungsbroschüre je könnte. Ihre Mutter verdient unterdessen Geld in Spätschichten der Kneipe. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich im Verlauf des Romans rapide, was Natsuko wiederum an die Mutter der beiden erinnert. Niemand vermag eben aus diesem Zyklus der Armut auszubrechen.
Kawakami denkt Feminismus und Kapitalismuskritik zusammen, aber nicht nur auf die Standardweise, die man zu häufig liest und hört und in Diskussionsrunden zerargumentiert: dass es Makiko und Midoriko besser ergangen wäre, wenn sie in besser bezahlten Jobs gelandet wären. Diese Tatsache spielt zwar auch eine Rolle und wird vor allem über die Krankheit und den frühzeitigen Tod als sehr reale Folge des Lebens in Überarbeitung verhandelt. Aber ob es ihnen anders und besser ergangen wäre, wenn sie Geld gehabt hätten, wenn sie sich dem Glücksversprechen des Kapitalismus hätten annähern können, scheint fraglich. Die Unwahrscheinlichkeit dessen tritt allzu deutlich durch Makikos Wahn einer angestrebten Brust-OP zutage.

Abseits der Armut werden gleichzeitig die gesellschaftlichen Einflüsse, die sich negativ auf das Leben junger Frauen auswirken, nie plump und eindimensional, sondern auch für heutige feministische Literatur ungeahnt mehrfaktoriell vermittelt. Dabei schleichen sich die Erkenntnisse der LeserInnen zu Themen wie mangelnder sexueller Aufklärung leise herbei, statt pamphletartig präsentiert zu werden. Ein Beispiel ist der Bericht Natsukos über ihren Schmerz, sich keine sexuelle, sondern eine emotionale Beziehung mit ihrem Expartner Naruse gewünscht zu haben.
In welcher Tradition bewegt sich Kawakami nun? In mehreren. Voraussichtlich in ihrer eigenen. Die Theaterautorin Pam Gems entwickelt in den 1970er Jahren Theaterstücke, in denen der Male Gaze keine Rolle mehr spielt. Frauen als alleinige Protagonistinnen ihres Schicksals, ihre (Ex-) Partner als punktueller, marginaler Einfluss. Diese Tradition des Feminismus perfektioniert Kawakami immerhin, ob sie das so wollte, who knows. Die einzige bedeutende männliche Figur, der Vater, hat in fast karikativ anmutender Manier nämlich nur die Bude vollgestunken. Was er hinterlässt, als er verschwindet, erinnert Natsuko sich, ist ein stinkender, dreckiger Futon, den die Mutter wütend schrubbt. Alles Weitere wäre Spoiler.